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EUROPAS GRÖSSTE CHANCE: Das kleinste Element

23.06.2025 | Tech & Innovation

Europa befindet sich in einem Wettlauf gegen die Realität: Einerseits ist da der Anspruch, globaler Vorreiter im Klimaschutz zu sein. Andererseits sind Europas Industrien stark unter Druck, vor allem durch hohe Energiekosten, schwache Infrastruktur und sinkende Wettbewerbsfähigkeit. Dieser Zielkonflikt droht auch im Straßengüterverkehr – dem Rückgrat unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Was es jetzt braucht, ist eine Lösung, die ökologisch überzeugt, wirtschaftlich tragfähig ist und sich ins Gesamtsystem einfügt. Einer der Schlüssel dafür: ein Molekül. Zur „Woche des Wasserstoffs“ ein Beitrag von Andreas Gorbach.

Ohne grüne Moleküle keine grüne Welt

Unser langfristiges Ziel ist ambitioniert wie wichtig: eine Wirtschaft ohne CO₂-Emissionen. Um dieses Ziel zu erreichen, reicht grüner Strom allein nicht aus – es braucht auch grüne Moleküle. Wasserstoff (H₂) wird dabei eine Schlüsselrolle übernehmen. Nicht nur im Transportsektor, sondern in nahezu allen energieintensiven Bereichen.

Erneuerbarer Strom bildet die Grundlage vieler Anwendungen – doch er stößt insbesondere in Mitteleuropa an Grenzen, wenn es darum geht, Energie zu speichern, zu transportieren oder flexibel in großen Mengen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort bereitzustellen.

Europa importiert heute mehr als 50% seiner Primärenergie als Kohle, Öl und Gas – die wird sich kaum durch lokal erzeugten grünen Strom ersetzen lassen, zumindest wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen.

Andreas Gorbach, Mitglied des Vorstands der Daimler Truck Holding AG, verantwortlich für Truck Technology

Genau hier entfaltet Wasserstoff (und seine Derivate) sein Potenzial: Er lässt sich speichern, weltweit handeln und vielseitig nutzen – von der Industrie über die Stromerzeugung in sonnen- und windarmen Zeiten bis hin zum Straßengüterverkehr. Und das Beste daran:

Sonne und Wind gibt es im Überfluss. Regionen mit hoher Sonneneinstrahlung könnten so schon bald zu Exporteuren grünen Wasserstoffs werden – wenn sie ihre natürliche Energiequelle nutzen, statt ungenutzt mit der Sonne den Boden zu erwärmen.

Die gute Nachricht: Das passiert bereits. In Leuchtturm-Projekten, etwa in Saudi-Arabien, wird Strom aus großen Solar- und Windparks in Elektrolyseanlagen genutzt. Der dort erzeugte Wasserstoff wird anschließend weiterverarbeitet, beispielsweise zu Ammoniak, Methanol oder Flüssigwasserstoff. So entsteht Wasserstoff zu attraktiven Preisen von rund zwei Euro pro Kilogramm, teilweise sogar darunter. Auch beim Transport gibt es vielversprechende Initiativen. Unternehmen aus mehreren Ländern wollen noch vor 2030 Schiffe im Einsatz haben, die in großen Mengen Flüssigwasserstoff transportieren können – ähnlich wie heute Flüssiggas (LNG). Entscheidend wird nun sein, dass sich Energiepartnerschaften bilden, die einerseits die Initialkosten tragen können und die Produktions- bzw. Transportkette errichten und andererseits auch Abnehmer entsprechende Verträge eingehen.

Die schlechte Nachricht: Kritiker diskutieren noch immer viel zu viel im Kreis.

Wirkungsgrad? Wirkung zählt.

Denn wenn es um Wasserstoff im Lkw geht, dreht sich die Debatte oft noch um den Wirkungsgrad. Doch das greift zu kurz.

Die sogenannte „Sun-to-Wheel“-Effizienz kann bei Batterie und Wasserstoff vergleichbar sein – abhängig davon, wo und wie die Energie erzeugt wird. Heißt: Wenn Wasserstoff in sonnenreichen Regionen wie Saudi-Arabien produziert wird, gleicht die hohe Effizienz in der Herstellung (mehr Sonne auf dem Solarpanel) die niedrigere Effizienz durch Umwandlungsverluste im Vergleich zum Batterieantrieb aus.
Nicht genutzte erneuerbare Energie hat einen Wirkungsgrad von null. Allein im vergleichsweisen sonnenarmen Deutschland gingen im Jahr 2024 etwa 10 Terawattstunden – manche Quellen sprechen sogar von doppelt so viel – überschüssiger Ökostrom verloren, weil er nicht gespeichert wurde, zum Beispiel in Wasserstoff. Umgerechnet in Euro: etwa 2,8 Milliarden.
Drittens ist der weiter steigende Energiebedarf nicht die eigentliche Herausforderung – entscheidend ist, wie intelligent wir ihn bedienen. Dabei hilft Wasserstoff. Das sehen übrigens auch einige Energieversorger so – und investieren bereits heute in wasserstofffähige Kraftwerke.

Viel Verkehr, (noch zu) viel CO₂

Ein Blick auf den Verkehrssektor – insbesondere den Straßengüterverkehr – macht deutlich, warum Wasserstoff von entscheidender Bedeutung sein kann.

In Europa sind mehr als sechs Millionen Lkw unterwegs, davon etwa 800.000 allein in Deutschland.

Sie sichern die Versorgung von Supermärkten, Apotheken, Baustellen und Kliniken – und verursachen gleichzeitig rund sieben Prozent der europäischen CO₂-Emissionen. Prognosen zufolge wird das Transportvolumen hierzulande bis 2040 nochmal um gut ein Drittel steigen. Gleichzeitig fordert die EU eine Reduktion der Emissionen um 45 Prozent bis 2030. Mit batterieelektrischen Lösungen allein ist dieses Ziel nur sehr schwer zu erreichen. Und bis 2035 sollen es ja 65% sein!

Battery first – aber nicht battery only

„Battery first“ ist zweifellos der richtige Ansatz: Batterieelektrische Fahrzeuge sind effizient, lokal emissionsfrei und benötigen zum Laden zunächst „nur“ einen Stecker. Doch das Stromnetz stößt schnell an seine Grenzen. Um zehn Fernverkehrs-Lkw an einem Rastplatz gleichzeitig in nur 45 Minuten zu laden, braucht es rund zehn Megawatt Leistung – ähnlich viel wie zur Versorgung einer Kleinstadt. Die Planungs- und Bauzeit dafür: zehn Jahre. Diese Zeit haben wir nicht – denn 2030 ist schon in weniger als fünf Jahren.

 

Deshalb ist der parallele Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur nicht nur sinnvoll, sondern notwendig. Ein Vorteil: Es benötigt weniger Fläche. Während batterieelektrische Lkw auf leistungsstarke Megawatt-Ladepunkte und Lkw-taugliche Parkflächen an Rasthöfen angewiesen sind, funktioniert die Nutzung von Wasserstofftankstellen im Grunde genauso wie die Nutzung von Dieseltankstellen. Die Tankzeit ist vergleichbar, es gibt mehrere Zapfsäulen und somit ist der Durchsatz an der Tankstelle deutlich höher als an der Ladesäule.

Was erstmal nicht intuitiv, aber eine noch bessere Nachricht ist: Der kombinierte Ausbau beider Infrastrukturen ist für Europa schneller und kostengünstiger. Zwar stimmt das nicht für die ersten Ladepunkte, die gerade entstehen – sobald (und das ist bald) jedoch die Stromnetze an ihre Grenzen kommen, wird der alleinige (und somit massive) Ausbau des Stromnetzes deutlich langsamer und teurer.

 

Was es jetzt also braucht, sind gezielte Investitionen in die elektrische Ladeinfrastruktur UND eine Wasserstoffinfrastruktur, die den Hochlauf für wasserstoffbetriebene Lkw ermöglicht. Nicht irgendwann – sondern sofort. Das Wasserstoff-Kernnetz ist bereits ein wichtiger Schritt für den Aufbau einer deutschlandweiten Wasserstoffinfrastruktur.

Zwei Technologien, ein Ziel

Der Straßengüterverkehr ist vielfältig – und so müssen es auch seine Antriebslösungen sein. Batterieelektrische Lkw sind ideal für planbare Routen und kurze bis mittlere Strecken, auch manche Fernstrecken. Sobald es um Distanzen im Bereich von 1.000 Kilometern oder mehr, hohe Nutzlasten, Kühltransporte mit hohem Energiebedarf oder Flexibilität für anspruchsvolle Routen geht, stoßen Batterien an wirtschaftliche, physikalische und infrastrukturelle Grenzen.

Genau hier kommt Wasserstoff in Kombination mit der Brennstoffzelle ins Spiel. Er ermöglicht emissionsfreien Transport auf großen Distanzen mit geringen Standzeiten. Der Wasserstoffverbrenner spielt wiederum bei hohen Nutzlasten und gleichzeitig relativ geringer Fahrleistung seine Vorteile aus, beispielsweise im Baustellenbereich. Er bietet minimale Kosten, hohe Robustheit und benötigt am wenigsten Bauraum im Fahrzeug.

Lkw mit Brennstoffzelle oder Wasserstoffverbrenner sind daher die perfekte Ergänzung zu Batterie-Lkw. Durch diese zweite Energiequelle wird zudem das Stromnetz entlastet und die Versorgungs- und Planungssicherheit erhöht – entscheidend für die Resilienz unseres gesamten Energiesystems.

Andreas Gorbach, Mitglied des Vorstands der Daimler Truck Holding AG, verantwortlich für Truck Technology

Unsere Kunden rechnen – und das zu Recht

Damit sich eine Technologie im Transport durchsetzt, braucht es neben Infrastruktur auch Wirtschaftlichkeit. Ein Lkw ist kein Lifestyle-Produkt, sondern ein Investitionsgut – und unsere Kunden sind Unternehmer, die bei niedrigen Margen mit jedem Kilometer Gewinn machen müssen. Aktuell sind die Betriebskosten für Wasserstofffahrzeuge noch zu hoch – vor allem wegen der Energiepreise.

Doch das kann sich rasch ändern:

Sobald der Preis für Wasserstoff auf fünf Euro pro Kilogramm sinkt, wird der Betrieb wirtschaftlich attraktiv.

Dieses Niveau ist im Verkehrssektor unter Einbeziehung der sogenannten RED II-Quote bereits bis 2030 erreichbar. Und auch die dafür nötigen Produktionskapazitäten sind realistisch. Außerdem wichtig: Der Wasserstoff muss grün sein – zumindest im Zielbild. Während der Hochlaufphase sollten wir den Fokus jedoch darauflegen, dass wir überhaupt Wasserstoff verlässlich verfügbar haben, ganz gleich welcher Farbe – also ähnlich zur Anfangsphase bei Batterie-Lkw mit Strom.

Eine historische Chance für Europa

Viele Unternehmen stehen längst in den Startlöchern. Wasserstoffbetriebene Lkw und Busse haben in Europa bereits über 15 Millionen Kilometer zurückgelegt. Unser Mercedes-Benz GenH₂-Truck wird aktuell von verschiedenen Kunden im Realbetrieb getestet. Im Pkw-Bereich legen zum Beispiel in Paris 800 Wasserstoff-Taxis jeden Monat rund drei Millionen Kilometer zurück. Vieles ist bereits vorhanden, noch mehr ist machbar.

Was fehlt, ist ein klarer politischer Rahmen, der Investitionen ermöglicht, Planungssicherheit schafft und den Markt in Bewegung bringt.

Und vor allem sollte die fast schon doktrinär geführte Begründung des Wirkungsgrad-Unterschiedes zwischen Batterie und Wasserstoff endlich ein Ende haben.

Wasserstoff bietet Europa eine historische Chance. Dank unserer industriellen Basis, unseres technologischen Know-hows und unserer Fertigungskompetenz sind wir heute weltweit führend in der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie. Noch. Damit das so bleibt, müssen wir jetzt entlang der gesamten Wertschöpfungskette arbeiten – von der Elektrolyse über Transport und Speicherung bis hin zur Betankung und Fahrzeugproduktion. So können neue Absatzmärkte für europäische Unternehmen entstehen. Und so können wir die Zukunftsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa und Deutschland stärken.

Das Potenzial: bis zu 500.000 qualifizierte Jobs bis 2030. Gleichzeitig verringert Wasserstoff die geopolitische Abhängigkeit, denn die für Brennstoffzellen benötigten Metalle der Platingruppe sind in Europa verfüg- und recycelbar. 

Während Europa bei Batteriezellen bereits ins Hintertreffen geraten ist, hat China uns bei Brennstoffzellen und Wasserstoffmotoren nicht überholt. Noch nicht. Denn das Reich der Mitte, weltweit führend bei batterieelektrischen Fahrzeugen, investiert längst massiv in das kleinste Element. Schon heute sind dort rund 30.000 Wasserstofffahrzeuge im Einsatz, über 400 Wasserstoff-Tankstellen in Betrieb. Bis 2030 sollen es eine Million Fahrzeuge und 1.000 Tankstellen sein. Das zeigt sehr klar: Wer den Transport der Zukunft anführen will, setzt nicht auf Entweder-oder – sondern auf Batterie UND Wasserstoff. Denn er bringt Synergien für das gesamte Energiesystem – und ist damit unerlässlich für die Erreichung der allgemeinen Klima-, Wirtschafts- und Sicherheitsziele Europas.

Eine Frage der Verantwortung

Wir bei Daimler Truck sind überzeugt: Wer die Welt bewegt, trägt Verantwortung. Für die Wirtschaft. Für die Gesellschaft. Und für das Klima. Deshalb ist die Elektrifizierung unseres Fahrzeugportfolios in vollem Gange – batterieelektrische Lkw sind bereits in Serie. Nicht aus technischer Erfinderlaune oder Idealismus, sondern aus Überzeugung und Verantwortung. Jetzt braucht es den nächsten Schritt – und den politischen Willen, auch den Wandel mit Wasserstoff entschlossen voranzutreiben.

Über den Autor

Dr. Andreas Gorbach ist Vorstandsmitglied der Daimler Truck AG, verantwortlich für Truck Technology. Gorbach war vor seiner aktuellen Position CEO des Brennstoffzellen-Joint Ventures cellcentric der Daimler Truck AG und der Volvo Group. Zuvor leitete er das Produktmanagement für die globalen Motoren- und Achsgenerationen bei Daimler Truck. Zudem verantwortete er dort im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens die Themen Klimaschutz und Luftqualität.

Gorbach begann seine Karriere bei Daimler Truck 2005 in der Antriebsstrangentwicklung. In den folgenden Jahren übernahm er dort verschiedene Führungspositionen, darunter die Entwicklungsleitung für die globalen Motorenplattformen.